FLUGSAND

Als er im Frühjahr 1985 von einer Gruppe Architekten und Soziologen eingeladen wurde,
eine fotokünstlerische  Arbeit über einen Teil von Meidling - ein Bezirk von Wien, in dem
er aufgewachsen war - zu verfassen, hat ihn das sehr gefreut und er war in der Folge guter
Dinge. Der vorgegebene Arbeitstitel, eine Reflexion über den Genius loci im städtischen
Raum, schien ihm eine Herausforderung, künstlerische Fotografie als zeitgemäßes visuelles
Medium einzusetzen. Nach einiger Überlegung hatte er ein Konzept über die Vorgangsweise
und die Art der Fotos und er stürzte sich in die Arbeit. Nach einem Monat musste er sich
eingestehen, dass er vorerst einmal gescheitert war; das Fehlen des Ausdruckes einer
leidenschaftlichen Emotion war der Grund seiner Unzufriedenheit; lag ihm doch die Zeit von
30 Jahren, die er im Bezirk gelebt hatte, seine Kindheit, seine Jugend und sein Erwachsen-
sein wie eine Last auf dem Gemüt und er wollte sich daher nicht damit begnügen nur das
Offensichtliche abzubilden und das Imaginäre, jene Aura, welche die Orte für ihn bedeutsam
machte, auszuklammern. Er versuchte in der Folge zu vermeiden, die Gegenstände nicht nur
zu fixieren, die Augen nicht nur aufzureißen und von vornherein immer Bescheid zu wissen.
Später erkannte er, dass manche Orte, Gebäudekonstellationen, Gassen und Plätze nur für
ihn allein von Bedeutung waren und daher die Ursache dieser Bedeutung in ihm selbst liegen
müsse. Er fand auch heraus, dass daneben noch weitere Arten von Bedeutung vorhanden
waren, solche, die er mit Freunden teilte und die, die für einen Teil der dort lebenden Men-
schen von Wichtigkeit waren. Er bemerkte, dass wenige Orte durch ihre Architektur und
räumliche Art, manche wegen ihrer wirtschaftlichen Gegebenheiten und viele auch ohne
jede äußere Besonderheit jene Aura besaßen, die man gemeinhin als Genius loci bezeichnen
könnte. Er versuchte seinen Blick zu verändern und er lernte mit vielen Augen zu sehen: er
sah in sich hinein, in seine Erinnerung, auf in der Vergangenheit Erlebtes, ob es nun genau
erkennbar war oder nur mehr in Fragmenten aufblitzte. Dieser Blick aber war nicht mehr
exakt auf den Punkt gerichtet, sondern er sah am Gegenstand vorbei, sah sich das daneben
Liegende an, er ließ ihn schweifen und flanieren, er blinzelte so lange, bis ihm alles unscharf
vor Augen stand. Er ließ sich noch einmal gefangen nehmen von den Freuden, den Erregungen
und den Ängsten vergangener Erlebnisse. Er wusste mit einem mal, dass das Portrait
eines Ortes mit einer Abbildung seiner Person und mit verschiedenen Zeichen, die für jenes
Gefühl standen, das seine Beziehung zum jeweiligen Ort bezeichnete, überlagert werden
musste, um so Reales mit Abstraktem in einem Komplex darstellen zu können. Dabei machte
sich ihm ein weiteres Phänomen bemerkbar: die Verschiebung einer Bedeutung, die mit
bestimmten Orten verbunden schien. War vor der Auseinandersetzung mit diesem Thema
die Vergangenheit der beherrschende Faktor, so verdrängte der Akt des Fotografierens
das Vorhergegangene und legte sich als eine neue Schicht über die alte Ebene. Er entwickelte
auch ein ungenaues Gefühl einer Verbundenheit für jene Orte. Dieses Gefühl einer Verant-
wortung hatte starke irrationale Züge und war ihm nie ganz fassbar. So empfand er auf
einmal Mitleid mit einer Gasse, in deren Erdboden gerade die Bagger und Maschinen der
U-bahnfirmen herumwühlten; es schien ihm geradezu, als wäre jene Gasse ein Organ eines
Lebewesens, eines großen atmenden Körpers, an dem schmerzhafte Operationen vorge-
nommen wurden. Ja, er hatte den Orten sogar Namen gegeben, und dachte in einer Art und
Weise an sie, als ob sie Verwandte wären. So einen Zustand konnte er für sich wohl nur
mit Heimatgefühl umschreiben.

Josef Wais    1986

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